Berlin-Tartu; von Andreas Schmidt

Ich bin im Juni 2019 von Potsdam nach dem im Süden von Estland
gelegenen Tartu gereist. Ich bin Linguist, genauer gesagt typologisch
interessierter Syntaktiker und spezialisiert auf die Syntax uralischer
Sprachen (auch bekannt als finno-ugrische Sprachen, nur das würde das
schließt genaugenommen die samoyedischen Sprachen aus). Tartu
beherbergt Sprecher vieler uralischer Sprachen und versucht auch
Kulturhauptstadt Europas im Jahr 2022 zu werden, und das als
„Hauptstadt der uralischen Völker“. Folgerichtig sollte in Tartu auch
die dritte Konferenz zur Syntax uralischer Sprachen stattfinden, die
SOUL 2019. Soviel zu mir und zum Hintergrund meiner Reise.

Reisesteckbrief:
        Strecke: Berlin–Tartu (EST), etwa 1400km
        Verkehrsmittel: Bus
        Preis: 55€
        Dauer: 35h, mit 7h Aufenthalt in Riga
        Vorteile:
                – viel Gepäck
                – ziemlich viel Platz
                –
        Nachteile:
                – für mich war Schlaf schlecht möglich




Warum der Bus?

Es gab verschiedene Reisemöglichkeiten: eine Kombination aus Zug und
Fähre, eine Kombination aus Zug und Bus, oder eine reine Busreise. Die
Zug–Fähre-Kombination wäre verboten teuer gewesen und die Reise hätte
2 Tage gedauert, also ist das gleich mal ausgeschieden; noch dazu sind
die Ostseefähren auch nicht allzu klimafreundlich.
Bei der Kombination aus Zug und Bus wäre ich von Berlin nach Warschau
gefahren, und ab da wäre es dann etwas abenteuerlich geworden:
entweder führe ich über Minsk nach Riga, oder durchs Baltikum. Weil
ich aus Erfahrung weiß, dass es keine Freude bereitet, ein Visum für
Belarus zu beantragen und ich befürchtete, dass ein Durchreisevisum
nicht weniger nervig zu bekommen sei; und weil ich mich erinnern
konnte, dass sich der Zug von Warschau nach Minsk anfühlte wie als
würde der Zug alle 2 Sekunden durch ein Schlagloch fahren; fiel die
Option mit Minsk jedenfalls aus. Dieses Problem trifft aber auch auf
die Strecke durch Litauen und Lettland auf: es gibt da, wie es
scheint, keine schnellen und komfortablen Fernverkehrszüge. Hinzu
kommt, dass ich sehr häufig hätte umsteigen müssen. Mich persönlich
nervt es sehr, auf Bahnhöfen zu warten, oder eventuell einen Anschluss
nicht zu bekommen. Hätte ich einen Urlaub in Tartu gemacht, hätte ich
es als Städtereise planen können. Nichtsdestotrotz wäre in beiden
Varianten wäre das letzte Stück der Wegstrecke, von Riga nach Tartu,
mit dem Bus zurückzulegen gewesen.
Die Wahl fiel aber nicht nur per Ausschlussverfahren auf den Bus: ich
muss nicht umsteigen und eventuelle Anschlüsse verpassen, ich muss
mich nicht auf unbekannten Bahnhöfen orientieren, es ist preiswert und
pro Person gerechnet überaus CO²-arm, mein Gepäck ist sicher im
Kofferraum verstaut und ich muss nicht darauf aufpassen, ich habe
meinen festen Platz, und die EU hat Sorge getragen die Straßen durchs
Baltikum zu renovieren, sodass die Fahrt auch nicht markerschütternd
verläuft. Außerdem bin ich lange Busreisen gewohnt, von Berlin nach
Innsbruck, oder von Berlin nach Konstanz, oder von Chemnitz nach
Freiburg. Die Busse von Ecolines verfügen überdies auch über ein
schwaches WLAN (was ich aber kaum genutzt hatte: fürs streaming zu
schwach, fürs Mailfach zu unsicher), und über einen Rücksitzmonitor
wie im Flugzeug, mit Filmen, Musik, und einem Hörbuch über die
Romantik der Piraterie. Als letztes Gewicht in der Wagschale wog auch
noch die Erwägung, erstens, meiner Nichte allerlei Süßigkeiten und
Souvenire für die Zuckertüte mitzubringen, und zweitens, in der
Tartuer Galerie ein Gemälde zu erstehen. Im Kofferraum des Busses
würde mich das Gewicht des Gepäcks und die Sperrigkeit des Gemäldes
nicht stören, im Zug hätte ich wohl vorsichtshalber einen zweiten
Platz buchen müssen. Ach ja, ein im Flugzeug als Gepäckstück
aufgegebenes Gemälde hätte es sicher nicht heil nach Deutschland
geschafft.

Wäre der Zug die CO²-ärmste Variante gewesen?

Laut http://ecopassenger.hafas.de wäre der Zug sogar CO²-belasteter
als das Flugzeug gewesen. Das hat nichts mit den CO²-Ausstößen des
Zuges selbst zu tun, sondern mit der vorrangigen
Energiegewinnungsmethoden der durchreisten Länder. Laut des Handbuchs
auf Grundlage dessen der Vergleich der Verkehrmittel auf ecopassenger
durchgeführt wird, werden in Estland 85% des Stroms aus Steinkohle
erzeugt und in Polen 85% aus Stein- und Braunkohle. In Litauen und
Lettland gibt es keine Kohlekraftwerke, trotzdem wird Energie in
Litauen zu 60% aus Gas und Öl gewonnen, und in Lettland zu 40% aus
Gas. Ich vermute also, dass die Kohlekraftwerke in Estland und Polen
hauptsächlich für den CO²-Anteil bei der Zugreise verantwortlich sind.
Da diese Energie ja aber sowieso produziert wurde, wäre der Zug wohl
trotzdem die CO²-ärmste Variante gewesen.


Anekdotischer Reiseverlauf

Zu Beginn der Reise in Berlin war es noch schön geräumig: fast alle
Reisenden haben es sich auf zwei Sitzen bequem gemacht, und die
Reisgebegleiterin hatte dagegen auch nichts einzuwenden. Ich machte
Bekanntschaft mit zwei Uzbeken die in Riga BWL studieren und davon
träumten, zum Ende des Studiums gute Kleidung und ein dickes Auto zu
besitzen; deswegen waren sie in Berlin, um auf gut Glück Arbeit
während der Semesterferien zu finden. Da ich zu mit dem Uzbekischen
verwandten Sprachen schon geforscht habe, habe ich schnell
nachgeschaut, was es an linguistischer Literatur zum Uzbekischen gibt
und habe kurz erprobt, ob die beiden Sprecher sich als Informanten
eignen, und tatsächlich haben sie die Urteile aus der Literatur
reproduziert. Wie in anderen Turksprachen mögen es unmarkierte Objekte
nicht vom Verb getrennt zu werden! Ich nahm mir vor, noch bis zum
nächsten Morgen ein paar weitere Testitems zu konstruieren um noch ein
paar neue Daten zu erheben, aber leider ist einer der Uzbeken an einem
Zwischenstopp ausgestiegen, an dem nicht ausgestiegen werden sollte –
was er auch wusste, aber er hatte gedacht, dass es ja so lang nicht
dauern kann, etwas zu trinken zu kaufen. Schließlich sind wir ohne ihn
weitergefahren. Jedenfalls aber war es für mich ohne Reisetabletten
möglich, im Bus am Laptop zu arbeiten, und das obwohl mir schon in der
S-Bahn schlecht wird wenn ich nur die Reklame lese.
Ich konnte die Nacht kaum schlafen. Ich kann allgemein nicht gut im
Sitzen schlafen, zusätzlich erwerend kam aber hinzu, dass wir in
Warschau gegen Mitternacht an verschiedenen Haltestellen angehalten
hatten und sehr viele Menschen zugestiegen waren. Der Platz neben mir
war damit nicht mehr frei. Es half auch nicht, dass wir inzwischen
nördlich genug gekommen sind, dass es schon morgens um 4 hell draußen
war. Aber somit konnte ich doch die Idylle erleben.
In Riga angekommen hatte ich den übriggebliebenen Uzbeken gefragt, was
ich mir denn in Riga in meinem sechsstündigen Aufenthalt ansehen
könne. Daraufhin hat es sich sein Cousin nicht nehmen lassen, mich
durch die Stadt zu führen. Das Gepäck konnte ich gleich beim
Busbahnhof in eine Gepäckaufbewahrung geben. Dadurch, dass ich nicht
erst lange von einem außerhalb gelegenen Flughafen in die Stadt fahren
muss, es keine Check-Ins und Sicherheitskontrollen gibt, und ich nur
darauf Acht geben musste, rechtzeitig wieder beim Bus zu sein, konnte
ich in wenigen Minuten mithilfe meines Guides in den Stadtkern
vordringen. Es war ein sonniger Tag, am Straßenrand wurde Kvass
ausgeschenkt, die Menschen tummelten sich im Park und in den
Restaurants. Ich konnte die Sehenswürdigkeiten der Stadt abklappern,
eine Galerie, die Schwarzhäuptergilde und das Katzendach bestaunen,
und war rechtzeitig zur Weiterfahrt nach Tartu wieder am Busbahnhof.
Beim Einstieg traf ich dann sogar auf eine befreundete Kollegin von
der Universität in Szeged, Ekaterina Georgieva! Sie wollte auch zur
Tagung nach Tartu und hatte ebenfalls schon eine längere Reise hinter
sich, sodass auch sie eher müde war. Auf den Bildschirmen waren auch
Spiele für zwei Spieler, und so haben wir um die Wette einen
AngryBirds-Clone gespielt.
Auf der Rückreise war ich müder als auf der Hinreise, sodass ich davon
nicht sehr viel mitbekommen habe. Der schwere Koffer und das Gemälde
wurden anstandslos mit in der Kofferraum geladen, und ich konnte das
Gemälde auch selber dort platzieren, wo ich es für sinnvoll befand.
Die Rückfahrt hat 4 Stunden weniger als die Hinfahrt gedauert, weil es
da keinen so langen Aufenthalt in Riga gab, nur genug Zeit für ein
Glas Kvass und einen schnellen Brunch.

Ich würde die Reise auf jeden Fall wieder unternehmen. Ich habe auch
Lust bekommen, eine Reise durchs Baltikum mit Bus zu tun: es braucht
einfach gefühlt so viel weniger Planung und Vorbereitung, einfach auch
dadurch, dass keine extra Zeit für Check-In und Sicherheitskontrollen
eingeplant werden braucht. Klar, mit dem Flugzeug wäre ich schneller
in Tartu, und ich werde es auch nicht vergessen wie ich am Flughafen
Lennart Meri zufällig Arvo Pärt beim Kauf eines Sudokurätselhefts
entdeckt habe und zufällig eine CD mit seinen Kinderliedern für ihn
zum Unterzeichnen dabei hatte. Aber vielleicht fährt Arvo Pärt ja
demnächst auch lieber Bus oder Bahn; sein Orchester jedenfalls hatte
auch mit den Sicherheitskontrollen und den Gepäckbeschränkungen
mächtigen Ärger und bildete einen krassen Kontrast zur Arvo Pärt
umgebenden Ruheaura. In der Bahn hätten die Cellisten ihr Instrument
sicher nicht aus der Hand geben müssen, und im Bus hätten sie sich
vergewissern können, dass das Instrument sicher verstaut ist.