In meinen Bemühungen, an der Humboldt-Universität Selbstverpflichtungen zum Verzicht auf Flüge unter 1000km bzw. 12 Stunden Reisezeit einzuholen, bekomme ich Begründungen dafür, warum die jeweiligen KollegInnen noch fliegen wollen. Dabei und auch in privaten Diskussionen kommen immer wieder Artikel aus der Zeit vor. Auf den Artikel Verzicht rettet nicht die Welt möchte ich hier eingehen.
Der Artikel wird damit eingeleitet, dass man als Deutscher im Schnitt 11,6 Tonnen CO2 ausstößt. Ein Interkontinentalflug nach Tokio entspricht laut Autor 5,53 Tonnen CO2-Ausstoß. Mit einem entsprechendem Urlaubstrip nach Japan erzeugt mal also Emissionen, die die Hälfte das Jahresausstoßes ausmachen. Alle Bemühungen, Energie zu sparen und CO2 zu reduzieren sind also durch den zweiwöchigen Urlaub zunichte gemacht worden. So weit, so gut, so einsichtig. Niels Boeing (ok, über Namen soll man keine Witze machen, aber ist das die Werbekennzeichnung?) kommt nun aber in einer längeren Ausführung dennoch zu dem Schluss, dass das schon OK sei, wenn man mal ein bisschen fliegen würde. Einige Argumente möchte ich hier mal aufgreifen.
„Flüge machen nur einen kleinen Teil der Emissionen aus“
Gleichen wir diese Zahlen mit dem Flugverkehr ab und nehmen wir einmal an, alle Deutschen hätten sich an Silvester 2015 dazu entschlossen, ab dem darauffolgenden Neujahrsmorgen ein Jahr lang kein Flugzeug zu betreten. Hätten sich zu einem Konsumentenstreik gegen die Luftfahrt entschlossen, inklusive Frachtflügen. Wie viele deutsche Emissionen hätten sie im Jahr 2016 damit eingespart? Antwort: 3,2 Prozent. In jenem Jahr lagen die Treibhausgas-Emissionen aus der Verbrennung fossiler Energieträger – Kohle, Öl, Gas – in Deutschland bei 83,5 Prozent des gesamten CO₂-Ausstoßes. Ein Fünftel davon entfiel auf die Stromerzeugung mittels Braunkohle.
Niels Boeing, Zeit, 2019
Hier gibt es mehrere Dinge anzumerken:
Höhenwirksamkeit von CO2 und die 3%
Mit der Zahl 3,2 Prozent argumentiert auch die Flugindustrie. Es handelt sich dabei um das tatsächlich ausgestoßene CO2 bzw. die entsprechenden Treibhausgase. Leider sind diese jedoch höhenwirksam, weshalb die Effekte mit einem Ausgleichsfaktor multipliziert werden müssen. Atmosfair arbeit zum Beispiel mit dem Faktor 3.
Nullemissionen (0,0)
Das Ziel sind Nullemmissionen und zwar so schnell wie möglich. Null bedeutet Null. Nichts. Gar keine Emissionen mehr. Die KliamforscherInnen waren zu optimistisch. Sie haben mit dem Auftauen der Permafrostböden in 70 Jahren gerechnet. Sie tauen aber jetzt auf. Wie Greta Thunberg sagt: There is no time!
Ja, aber die anderen
Das Argumentationsmuster: „XY ist ja viel schlimmer als ich, soll der sich doch mal ändern, dann sehen wir weiter.“ ist sehr beliebt. Man findet es in verschiedenen Varianten: „Die Chinesen/Polen machen viel mehr Dreck und haben auch noch Braunkohle.“ „Die Afrikaner haben zu viele Kinder, so kann das nichts werden.“ usw. Eine besonders absurde Variante davon gab es kürzlich auf Twitter: Ja, es sind jetzt 34 Leute erschossen worden, aber an der Grippe sterben viel mehr. Hier der original Tweet des Astrophysikers Neil deGrasse Tyson:
Dieser Tweet allein ist schon schockierend, aber dass er 318.900 Menschen gefällt ist … ehm … bestürzend. In Deutschland findet man solche Argumentation gewöhnlich, wenn es um das Tempolimit geht. „Ach, die paar Toten.“ Der Punkt hier ist, dass man diese Amok-Toten wahrscheinlich relativ leicht vermeiden könnte, so wie auch die Toten, die durch Raserei auf Autobahnen sterben. Sicher sind die Toten, die an Grippe, psychischen Leiden, Autounfällen usw. sterben genauso schlimm wie die, die bei Massenschießerein umkommen, aber die Schlussfolgerung muss sein, dass man alles unternimmt um jegliche Todesfälle zu vermeiden.
Dieselbe Argumentationsweise findet sich an mehreren Stellen im Artikel von Niels Boeing. Zum Beispiel hier:
Der weltweite Flugverkehr war 2014 für zwei Prozent der gesamten Treibhausgas-Emissionen weltweit verantwortlich, wie Steven Davis von der University of California in Irvine im vergangenen Jahr mit einem 32-köpfigen Forscherteam analysiert hat. Zwei Prozent. Zum Vergleich: Die globale Zementproduktion trug im selben Jahr vier Prozent der Emissionen bei, die weitere Bauindustrie gar zehn Prozent. Haben Sie je einen Appell vernommen, den Wohnungsbau zu stoppen? Selbstverständlich nicht. Niemand würde so etwas fordern. Häuser müssen schließlich gebaut werden, und der Wohnraum ist schon knapp genug.
Niels Boeing, Zeit, 2019
Die Argumentationsweise folgt dem bekannten Muster „Aber X“. Dazu ist sie inhaltlich falsch und polemisch. Die gängige Bauweise verwendet Stahlbeton. Es ist klar, dass dieses Bauen nicht nachhaltig ist, denn entsprechende Bauten haben ein Verfallsdatum von 80 Jahren, weil der Stahlbeton einfach zerfällt. Natürlich würde niemand fordern, den Wohnungsbau einzustellen. Was allerdings gefordert wird, ist ein anderes Bauen, denn Gebäude zu bauen, um sie dann nach einigen Jahrzehnten anzureißen ist schlicht Wahnsinn. Inzwischen gibt es wieder mehrstöckige Wohnhäuser, die in Holzbauweise gebaut werden.
Zurück zum Fliegen: Durch unsere Flüge entziehen wir anderen Menschen und uns selber die Lebensgrundlage. So wie bei den Amokläufen unschuldige Menschen erschossen werden, die zufällig am Ort des Geschehens waren, so leiden Menschen unter unserem Verhalten, die selbst nie geflogen sind und nie fliegen werden. Bei einer Erwärmung um 2° wären 37% der Menschen extremen Hitzeereignissen ausgesetzt (bei 1,5° „nur“ 14%). Bei einer Erwärmung um 2° würden 411 Millionen Menschen zusätzlich extremen Dürren ausgesetzt werden (bei 1,5° „nur“ 350 Millionen). Bei 2° wären 32–80 Millionen Menschen Überflutungen ausgesetzt (bei 1,5° „nur“ 31–69 Millionen). (Quelle: New York Times, 07.10.2018) Durch die Verringerung der Luftverschmutzung könnten 110–196 Millionen vorzeitige Todesfälle bis 2100 verhindert werden (Quelle: Shindell, et. al. 2018: Quantified, localized health benefits of accelerated carbon dioxide emissions reductions , Nature Climate Change)
Wir sollten also alles tun, um die Erwärmung von 2,0° zu verhindern. Alles. Das Argument, es gäbe ja noch andere CO2-Emittenten zieht nicht, denn wir müssen klimaneutral werden.
Änderung Flugrouten
Boing greift diverse Vorschläge der Flugindustire zur Verringerung des Klimaimpakts auf:
Die Luftfahrtindustrie könnte allerdings beide Probleme angehen. Sie könnte zum einen Flughöhen und Flugrouten ändern. Je niedriger Maschinen fliegen, desto kürzer ist die Lebenszeit der Nicht-CO₂-Emissionen und desto geringer die Bildung von Kondensstreifen und damit zusätzlichen Zirruswolken. In mittleren Breiten müssten Flugzeuge unterhalb von acht Kilometern, in den Tropen unterhalb von zwölf Kilometern fliegen. Studien des Deutschen Luft- und Raumfahrtzentrums (DLR) haben zudem gezeigt, dass andere Flugrouten über den Nordatlantik die Klimawirkung der Nicht-CO₂-Emissionen deutlich abschwächen können.
Niels Boeing, Zeit, 2019
Der Vorschlag ist interessant, aber man möge sich kurz vor Augen führen, was an einem normalen Tag in Europa so los ist (07.08.2019, 9:21):
Diese Flugzeuge fliegen überall in Europa über dicht besiedeltes Gebiet. Wir waren in diesem Sommer in Slowenien im Triglav-Nationalpark. Fernab von Autos im Wald. Es war sehr ruhig. Was man aber hört sind … Flugzeuge. Obwohl diese in 10.675 Metern Höhe fliegen.
Auch im Oderbruch kann man Flugzeuge in dieser Höhe deutlich hören. Man nimmt sie nur gewöhnlich nicht wahr, weil der Verkehrslärm alles überlagert. Lärm nimmt mit der Entfernung quadratisch ab. Bei einer Verlagerung des Flugverkehrs um 2000 Meter nach unten, wäre also mit einer erheblichen Zunahme des Fluglärms zu rechnen. Ich wohne in der Einflugschneise von Tegel und weiß, was Fluglärm bedeutet:
Power to liquid
Boing schreibt, dass es in Zukunft wahrscheinlich alternative Brennstoffe geben wird. Zusammen mit anderen Flugrouten könnte das die Klimawirkung abschwächen:
Auch wenn es bei Verbrennungstriebwerken bleibt, muss der Treibstoff der Zukunft nicht Kerosin sein. Es geht auch mit Wasserstoff, der klimaneutral mit erneuerbaren Energien hergestellt werden kann. „Power-to-Liquid“ nennt sich das Konzept. Aus den Düsen der Jets käme dann nur Wasserdampf. Kein Ruß, kein Schwefel, kein CO₂. Aber würde das nicht zu noch mehr Kondensstreifen führen? Nicht zwingend. Auch hier kommen wieder andere Flugrouten ins Spiel. Lang anhaltende Kondensstreifen bilden sich dort, wo die Luft mit Eiskristallen übersättigt ist. In nicht übersättigten Luftschichten lösen sich Kondensstreifen hingegen nach etwa zwei Minuten wieder auf. Zudem würden sich hinter den Wasserstoff-Triebwerken größere Eiskristalle als bei heutigen Triebwerken bilden, was die Wirkung der Kondensstreifen ebenfalls abschwächt, wie Volker Grewe vom DLR betont, der an verschiedenen Studien zum Thema mitgearbeitet hat.
Niels Boeing, Zeit, 2019
Es stellt sich wieder die Frage nach den Flugrouten innerhalb Europas. Davon abgesehen, ist die Technologie in der Entwicklung. Es gibt ein erstes Werk zur Erzeugung des Brennstoffs, aber Motoren und Flugzeuge fehlen völlig. Es ist unklar, wann es sie geben wird. Die Industrie geht selbst von 25 Jahren aus:
Eine Studie aus dem Jahr 2016 wertete Medienberichte im Hinblick auf die dominanten Diskurse über technologische Fluginnovationen aus.1 Sie kommt zum Ergebnis, dass sich die Versprechungen vom grünen Fliegen als Illusionen entpuppten und die Erwartungen stets weiter in die Zukunft hinausgeschoben werden. Für grüne Flüge wären Quantensprünge notwendig, zum Beispiel komplett neue leichte Energiespeicher für eine Elektrifizierung oder die Supraleitfähigkeit von Flugzeugen. Inzwischen geht selbst die Industrie von wenigstens 25 Jahren bis zur technischen Reife von Neuerungen dieser Art aus. Da Flugzeuge eine Lebensdauer von etwa 25 Jahren haben, bleiben energieintensive Maschinen also mindestens bis in die 2060er Jahre im Einsatz – oder länger, falls sich die erhofften Quantensprünge auch weiterhin nur als Utopien erweisen. Realistischer sind die geplanten Effizienzgewinne im Kerosinverbrauch neuer Flugzeuge von jährlich 1,5 %. Doch das ist im Vergleich zur jährlichen Wachstumsrate der Luftfahrt von 4,3 % wenig. Zu wenig.
Grünes Fliegen – gibt es das?, Finance & Trade Watch: Heuwieser 2017, PDF
Interessant ist auch der Artikel in der taz: Umweltfreundlicher Treibstoff für Flugzeuge ist möglich, aber teuer
Da wir aber jetzt handeln müssen und die Emissionen jetzt herunterfahren müssen, ist der Verweis auf zukünftig vielleicht verfügbare Technologien nicht hilfreich. Vielleicht doch: Er kann helfen, die Selbstverpflichtung jetzt zu unterschreiben, weil man dann später vielleicht wieder fliegen kann, wenn die CO2-Probleme gelöst sind. Ich habe mich übrigens nicht nur zum Verzicht auf Kurzstreckenfliege bis 1000km entschlossen, sondern habe beschlossen gar nicht mehr zu fliegen.